Die Zukunft der Demokratie (Matthias Horx)
Gibt es überhaupt eine?
Zur Frage, ob die Demokratie eine Zukunft hat, würde ich gerne meine Großmutter befragen. Sie wäre heute 118 Jahre alt – Jahrgang 1906. In ihrem sanften Sächsisch würde sie Demogradie sagen, mit guttural-weichem G und D. Das klänge irgendwie liebevoll.
Dieser Text stammt aus der Zukunfts-Kolumne von Matthias Horx:
www.horx.com/die-zukunfts-kolumne
Siehe auch: https://thefutureproject.de/
Meine Großmutter war eine sächsische Liberale. Parteibuch Nummer sechs nach Hans-Dietrich Genscher, wie sie immer stolz erzählte. Sie flüchtete, wie meine ganze Familie, in den fünfziger Jahren aus der DDR in den Westen, weil sie in ihrer Heimatstadt Pirna bei Dresden keine Lebensperspektive mehr sah. Sie war eine bürgerliche Frau, die in der Weimarer Republik und Fall der jungen deutschen Demokratie erlebte, nach dem Krieg die Familie versorgte und ein grundlegend humanistisches Weltverständnis hatte.
„Der Mensch muss leben“, sagte sie. „Man kann nicht Leute auf Dauer einsperren. Demokratie macht die Möglichkeit, ein Bürger zu sein statt ein Untertan. Sich zu entwickeln.“
Das Wort „Bürger“ war in meiner Jugend eher ein Schimpfwort. „Bürgerlich“ war das Letzte, was man sein wollte, wenn man sich jung und rebellisch fühlte und die Welt verändern wollte. Heute ist das anders. Man sehnt sich förmlich nach Bürgern, die die Demokratie nicht ständig beschimpfen, verdammen, in Grund und Boden reden. Sondern gestalten. Das Bürgerliche als verantwortliches Lebens- und Gesellschaftsverständnis ist zu einer unerfüllten Sehnsucht geworden.
Was würde meine Großmutter angesichts der heutigen Lage der Demokratie sagen? Sie wäre sicher entsetzt. Ich wäre sehr interessiert, zu wissen, was sie von der verbreiteten These hält, dass jetzt „die Nazis“ wiederkommen. „Nüscht“, würde sie wahrscheinlich in ihrem immer leicht ironischen Tonfall sagen. „Dieselbe Bäbe (sächsischer Kuchen, der zum Leichenschmaus gegessen wurde) wird nicht zweimal gebacken.“
Die falsche Diagnose
Dass die Demokratie am Ende ist, wird meistens damit begründet, dass es furchtbar viele böse Rechte gibt, die sie abschaffen wollen.
Das ist ein bisschen so, wie wenn man sagen wollte: „Es regnet, weil es nass ist.“
Versuchen wir eine andere Perspektive: Das rechtsradikale, demokratiefeindliche Spektrum wuchert, weil die Demokratie ein Problem hat. Dieses Problem lässt sich nur systemisch und (meta-)psychologisch verstehen. Das erste Stichwort ist Komplexität. Die „Umwelt“, auch die Innenwelt der Gesellschaften, in denen wir leben, hat sich verändert. Die Nachkriegsgesellschaft, in der ich als Boomer aufgewachsen bin, war eine schnell wachsende industrielle Klassengesellschaft mit ziemlich hoher nationaler Souveränität, die jedes Jahr ein bisschen mehr „Wohlstand für alle“ hervorbrachte. In ihr gab es ziemlich klare Schichten, Klassen und Interessen; Ordnungen, auf die man sich beziehen konnte, gerade indem man dagegen rebellierte. In der Politik ging es zunächst vor allem um die Umverteilung des Wohlstands-Kuchens, der ständig größer wurde. Später auch um Kultur- und Wertefragen. Als geteilte Zukunftsvision gab es die Idee einer Bildungsgesellschaft, in der alle sich in einem permanenten, auch geistigen Aufstieg befanden.
Auch damals gab es Spaltungen und Lager, die sich bekämpften. Es gab aber eine Synergie, die gerade aus den Widersprüchen entstand. So stammten wichtige Umweltgesetze von der CDU, sogar das Heiratsrecht für Schwule und die breite Kinderbetreuung wurden von den Konservativen verabschiedet. Die wirksamsten Gesetze zur Ankurbelung der Wirtschaft kamen oft von den „Sozis“, man denke an die vielgescholtenen Hartz-Gesetze. Im Wechselspiel von Regierung und Opposition, von konservativ und progressiv, entstand ein Win-Win-Spiel, das sich selbst stabilisierte: Die Demokratie funktionierte als lernendes System.
Die Gesellschaft war in Bewegung, und stellte der Politik Fragen. Die Politik antwortete. Sie antwortete auf das, was in der Gesellschaft geschah, mit maßvollen Reformen.
Verhexte Probleme
Heute ist die Gesellschaft in die in tausend kleine Interessensgebilde, Gefühlslagen und Lebensweisen zersplittert. Unsere komplexe Gesellschaft ist geprägt von „Wicked Problems“. Problemen, die man nicht so ohne weiteres lösen kann, und die in ihrem Kern ein Paradox aufweisen. Migration zum Beispiel: Einerseits wird heute Fluchtmigration als Waffe in Globalen Konflikten benutzt (Putin lässt grüßen), schon deshalb muss sie eingedämmt werden; sie ist in einem doppelten Sinne „illegal“ geworden. Das aber richtet sich in der einen oder anderen Weise gegen die grundlegenden Menschenrechte. Gleichzeitig brauchen spätindustrielle Wirtschaften mit sinkenden Geburtenraten Einwanderer, die schlechtbezahlter Jobs übernehmen. Aber auch Fremde, die verantwortungsvolle Berufe ausüben können. Die nur kommen, wenn es keine fremdenfeindlich verseuchte Atmosphäre gibt.
Wie will man diese Paradoxie jemals auflösen?
So gut wie alle Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens sind durch solche „Verhexungen“ geprägt: Wie soll man jemals die steigenden Gesundheits-Kosten für eine Bevölkerung in den Griff kriegen, die im Altern immer länger kränker wird, gerade WEIL ständig neue Behandlungsmethoden erfunden werden, die das Leben verlängern, die aber immer TEURER sind? Wie will man das moderne Einsamkeitsproblem „lösen“, wenn die Individualisierung immer weiter fortschreitet und Bindungen immer mehr erodieren? Wie soll man den Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie lösen, wenn jedes Wachstum, existentiell für eine rasende Konsumgesellschaft, immer mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre bläst? Und neuestes Beispiel: Wie soll man die Notwendigkeit erfüllen, sich gegen bösartige Diktatoren neuen Typus zu rüsten, wenn ein Ethos des „Sterbens fürs Vaterland“ total aus der Zeit gefallen ist?
In all diesen Paradoxien stößt die Politik an die Grenzen ihrer Formungsmacht. Sie wird aber gleichzeitig als „Lösung für Alles“ gesehen. Jede gewählte Regierung, steht von der ersten Minute an unter einem übermächtigen Erwartungsdruck, der sie schon ohnmächtig macht, bevor das erste Gesetz erlassen, die erste Lösung auf dem Weg ist. Ständig bilden sich Empörungs- und Trotzgemeinschaften, die allerdings ebenso schnell wieder verschwinden und sich anderen Themen zuwenden. In der Parteienwelt herrscht ein heilloses Tohuwabohu (Kuddelmuddel würde meine Großmutter sagen): Linke Parteien liebäugeln plötzlich mit reaktionären Parolen, weil sie hoffen, die rechten Empörungsreservoirs einzufangen. Volksparteien zerfasern sich in endlosen Verkrampfungen, nicht ratlos zu erscheinen. Das radikal Rechte wird plötzlich rebellisch, und das Linke erstarrt in endlosen moralischen Forderungskatalogen. „Konfusionismus“ nannte der französische Politologe Phillippe Corcuff diese Selbst-Verschlingung des Parteisystems, in der alle nur noch in einer Art Riesentheater aufeinander einschlagen, und jeder Zukunfts- und Sinngehalt verschwindet.
www.zeit.de/philippe-corcuff
Die Echokammer der Medien
Bevor ich Zukunftsforscher wurde, war ich Journalist und Redakteur, unter anderem in der Hamburger ZEIT. In der Redaktion hatten wir damals eine interessante Mischung aus Nähe- und Distanzkultur; es galt das „Hanseatische Sie“. „Helmut, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie gerade diese und jene These vertreten?“, sagte man zum Beispiel auf wöchentlichen Redaktionskonferenzen zum damaligen Herausgeber Helmut Schmidt. Die Kombination von Vornamen und Höflichkeitsform hatte etwas Aristokratisches, Vornehmes, aber eben auch etwas zutiefst Demokratisches. Weil es Hierarchien und Distanzen anerkannte – und gleichzeitig überbrückte.
In dieser Zeit vor Jahrtausendwende und Digitalisierung waren „Medien“ noch das, was der Name eigentlich sagt: Vermittler. Es ging darum, die Unterschiedlichkeit der Gesellschaft mit Diskursen und Verbindungen zu versorgen. Der Herausgeber des Spiegels, Rudolf Augstein, sah sein Blatt sogar als „Sturmgeschütz der Demokratie“. Was bedeutete, den Politikern, der „Politik“, immerzu mit gnadenloser Kritik zu Leibe zu rücken, um sie dadurch zu verbessern.
In einer Aufmerksamkeits- und Erregungs-Ökonomie hat sich diese kritische Rolle aber in etwas Dämonisches verwandelt. Journalistische Technik besteht immer mehr im „Clickbaiting“, jener immer raffinierter ausgeübten Methode, durch drastische, absurde, angstmachende Überschriften und Bilder Klick-Reaktionen auszulösen. „Früher“, sagte neulich ein namhafter Journalist, „ging es darum, Werbung zwischen den Themen zu verkaufen, die mit dem Inhalt nichts zu tun hatte. Heute geht es darum DURCH ein möglichst schräges Thema möglichst viele Werbe-Klicks zu erzeugen. Das macht den ganzen Unterschied.“
Der mediale Stil gegenüber der Politik tendiert zu dem, was man im Englischen „Horse-Race-Journalism“ nennt. Es geht nur noch darum, wer „das knappe Rennen gewinnt“. Vielmehr: verliert. Hier eine typische SPIEGEL-Schlagzeile (30.6.24): „Pistorius führt, Baerbock verliert!
Der Verteidigungsminister ist jetzt beliebter als der Bundespräsident. Für Annalena Baerbock und Volker Wissing läuft es nicht rund, anders sieht es bei Nancy Faeser aus…“
Politiker werden wie Pferde behandelt, die mit der Peitsche durch den Parcours getrieben werden. Unentwegt wird verglichen, abgewertet, hochgejubelt, verurteilt, skandalisiert, „vermeint“. Fernseh- Interviews ähneln eher monotonen Abfragen: „Was sagen sie zum Versagen der Politik in diesem und jenem Bereich? Wann erklären sie endlich ihre Kandidatur zum Bundeskanzler? Finden Sie nicht auch, dass…“ All das stärkt die „Trotzdemokratie“ (Sloterdijk), die immer weniger von und über sich selbst wissen will, sondern immer nur neue Erregungen sucht.
Das übermächtige Echosystem der Medien hat zu dem beigetragen, was man eine „Hysterese“ nennen könnte. Eine schleichende Hysterisierung der Gesellschaft, in der nur noch das Gefährliche, Nichtfunktionierende, Nichtperfekte gesehen und mit Angst und Vorwurf aufgeladen wird. Man kann nichts mehr zugestehen, nichts anerkennen. Nichts mehr einfach mal gut finden. Die Gesellschaft gerät in einen Emotions-Überschuss, und verliert ihren inneren Kern des Zusammenhalts.
Selbst Augstein, der gnadenlose Rächer der Demokratie, muss diesen Echo-Effekt der negativen Selbstverstärkung geahnt haben. In einem Interview kurz vor der Jahrtausendwende sagte er: „Es liegt wohl im Wesen der politischen Kritik, die Krisen, die aufgezeigt werden, immer noch zu verschärfen. Wie man das ins Positive wenden kann, dazu habe ich nichts zu bieten.“
Der Begriff Hysterese (altgriechisch: Hysteresis = Zuspätkommen), stammt aus der Physik. Erklären lässt sich das Phänomen an der Heizungstechnik. Thermostaten messen die Temperatur eines solchen Systems an bestimmten Stellen, und lösen, wenn etwas zu heiß oder zu kalt wird, eine Reaktion aus. Dabei entstehen zeitversetzte Vorlauf- und Nachlauf-Kurven, die über Feedbackschleifen die Temperatur „regeln“. Auch unser Körper, das menschliche Leben, der menschliche MIND, ist durch solche Feedback-Schleifen geregelt. Ständig „springen“ Routinen, Prozesse, Abläufe an, mit der wir versuchen, wieder in Balance zu kommen, körperlich und seelisch. Was bei Heizungssystemen eine durchgängige Wohlfühltemperatur ist, ist bei Menschen die „Homöostase“.
In einer (mentalen) Hysterese geraten die Vorlauf- und Nachlauf-Schleifen (Antizipationen/Rezipationen) dauerhaft aus dem Ruder. Es gelingt nicht mehr, eine sinnvolle Rückkoppelung zwischen Angst und Beruhigung, Furcht und Aktivität herzustellen. Störgrößen entstehen und schaukeln sich auf. Die „Feedbacks“ des gesamten Systems verändern sich erst langsam, dann schneller in eine chaotische Richtung (etwas Ähnliches findet in unserem Körper beim Altern statt, wenn die Homöostase nicht mehr funktioniert).
Hysterese verändert das Denken. Unser Erwartungs- und Wahrnehmungssystem wird umgebaut. Statt mit Zuversicht begegnen wir der Welt mit immer mehr Misstrauen. Der Satz „Es wird schon schiefgehen“ hat keinen ironischen Tonfall mehr.
In der Hysterese entsteht der so genannte Abwärtsvergleich als Norm des Denkens. Wir vergleichen nicht mehr unsere Wünsche, Träume, Hoffnungen mit den Möglichkeiten, und versuchen Wege der Realisierung zu finden – die Zukunft leitet uns. Wir sehen stattdessen alles nur im Zeichen des Verlustes. Wir rechnen auf: Früher war alles besser, heute wird alles schlechter, also kann es demnächst nur noch schlechter werden.
Wir konstruieren und selbst in einer Negativspirale der Zukunftslosigkeit.
Die Konsequenz sind Jammern, Bitterkeit und Wut, die schnell in Aggression umschlagen können.
Vom Bürger zum Konsumenten
Wir leben in einer Konsumgesellschaft. Als Konsument muss man sich um die Umstände nicht kümmern. Alles wird im Supermarkt bereitgestellt. Oder per Internet am nächsten Tag geliefert, mit Rückgaberecht. Die Macht des Konsumenten ist die Reklamation: Wenn etwas nicht gefällt, wird es zurückgeben. Oder man geht zum Verbraucheranwalt. Oder schreibt wütende Zerrisse auf Facebook.
Konsum, als Verhaltens- und Erwartungsform, hat offensichtlich längst auf die politische Sphäre und den gesellschaftlichen Diskurs übergegriffen. Vom Staat erwarten wir zuallererst Vorteile, „Erleichterungen“. „Lösungen“ „Effizienz“, „sinkende Steuern“. Der Staat soll alles regeln, Gerechtigkeit herstellen, alle Krisen beseitigen, Pandemien beenden, ohne dass wir unsere Freiheit einschränken müssen. Er soll mit wenig Geld alles finanzieren, und zwar subito! Man erwartet von „der Politik“ „instant delivery” – sonst ist alles kaputt!
In ihrem Buch „Citizens – warum die Lösung in uns Allen liegt“ schreiben die Autoren Jon Alexander and Ariane Conrad:
„In den letzten Jahren haben wir für ein Buch mit dem Titel „Citizens“ recherchiert, in dem wir eine hoffnungsvollere Erzählung für das 21. Jahrhundert vorschlagen als die des Konsumismus. In dieser Zukunft sind die Menschen aktive Bürger, und keine Untertanen oder Konsumenten. Mit dieser Identität wird es leichter zu erkennen, dass alle von uns smarter sind als jeder Einzelne. Und dass die Strategie, um schwierige Zeiten zu meistern, darin besteht, die vielfältigen Ideen, Energien und Ressourcen aller zu nutzen. Bei dieser Form der Staatsbürgerschaft geht es nicht um den Reisepass, den wir besitzen, und sie geht weit über die Pflicht hinaus, bei Wahlen abzustimmen. Sie stellt die tiefere Bedeutung des Wortes „Citizen“ dar, dessen etymologische Wurzeln wörtlich „gemeinsame Menschen“ bedeuten: Menschen, die durch ihre grundlegende gegenseitige Abhängigkeit definiert sind, Leben, die ohne Gemeinschaft bedeutungslos sind. Als Bürger sehen wir uns um, identifizieren die Bereiche, in denen wir Einfluss haben, finden unsere Mitarbeiter und engagieren uns. Und unsere Institutionen ermutigen uns dazu.
Die größte Gefahr für die Demokratie geht womöglich von einer Nullsummenlogik aus, in der es gar nicht mehr um Verbesserungen geht, sondern um „Racheakte aus Enttäuschung“. Untersuchungen in Frankreich über die Wähler von Rassemblement National zeigen, dass es sich in der Mehrzahl eher nicht um Marginalisierte und „abgehängte“ Bevölkerungsschichten handelt. Sondern um relativ Etablierte, die oft ein Eigenheim besitzen, die um ihren Status fürchten, und eine Art Abwärts-Wut kultivieren. Sie wollen nicht wirklich, Verbesserungen, etwa bessere Gesundheitsversorgung oder mehr Verkehrsmittel auf dem Lande. Sie wollen, dass andere – Minderheiten, Migranten, Nichtverwandte, Kulturfremde – weniger bekommen. (Félicien Faury, Des électeurs ordinaires).
www.deutschlandfunk.de/felicien-faury
Das ist das, was Hans-Magnus Enzensberger einmal den „molekularen Bürgerkrieg“ nannte.
Das Wesen der Demokratie
Um die Krise der Demokratie zu verstehen, müssen wir verstehen, was Demokratie eigentlich ist. Demokratie ist eine Methode der Machtkontrolle. Sie erzeugt durch „checks and balances“ Entscheidungs-Mehrheiten und schützt dabei Minderheiten. Man kann Mächtige immer wieder abwählen und etwas Neues versuchen, und dadurch entstehen á la long Lernprozesse. Bessere Politik und klügere Politiker, aber auch eine Gesellschaft, die sich in ihren Differenzen besser (selbst)organisiert.
So sollte es jedenfalls sein.
In der digitalen Moderne funktioniert das jedoch immer weniger. Hier herrscht ein anderer Zeit-Takt. Eine „Red-Queen-Logic“: „Hierzulande musst Du immer schneller laufen, wenn Du auf der Stelle bleiben willst!“, sagt die Rote Königin im Wonderland zu Alice.
Genauso fühlen wir uns alle: Als würde wir ständig auf der Stelle rennen (müssen).
Demokratien haben gelernt, mit Paradoxien und Konflikten umzugehen, indem sie sie sozusagen „fein zermahlen“. Mit anderen Worten: Die „Bürokratie“ ist die Grundlage des Demokratischen, weil nur durch „bürokratische“ Verkehrsformen Feinabstimmungen von Interessen stattfinden können. Jetzt aber wird unaufhörlich gegen „die Bürokratie“ geschimpft. Das hat fatale Auswirkungen, vor allem auch auf jene, die die Arbeit der Interessensausgleiche machen.
Bürokratie wird nur dann übermächtig, oder verselbstständigt sich, wenn die Selbst-Initiative nachlässt.
Das Rezept der Rechten ist die Retrotopie: Früher soll alles besser gewesen sein, also zurück in die Vergangenheit. Nur können Gesellschaften nie „nach hinten“ entwickeln. Die Herausforderungen und Lösungen liegen immer in der Zukunft.
Das Rezept der Linken war früher die Befreiung, die Emanzipation und die Gerechtigkeit. Heute ist die Parole das Kümmern um die Armen, Schwachen, Abgehängten. Wer könnte diesem moralischen Gebot widersprechen? Nur – wie? Die Instrumente des Staates, oder „der Politik“,, sind vor allem Gesetze und Geld. Geld allein aber verändert niemals Lebenslagen, auch wenn es auf den ersten Blick so scheint. Gesetze können wenig ausrichten, wenn die Betroffenen dagegen sind.
Das Elend der linken „Kümmerungs“-Strategie liegt schon im Begriff. Kümmern kommt von Kümmernis, und besteht darin, etwas von oben herab verändern zu wollen, dass aber nicht so leicht verändern lässt. Es entsteht aus einer im Grunde herablassenden, „gekrümmten“ Haltung. Gerade das verletzt den Stolz und führt zu Widerstand. Das sagt nichts gegen die nötige Umverteilung, die existentielle Absicherung. Aber es ist an der Zeit, sich von der Illusion zu verabschieden, Geld würde die Welt „sozialer“ machen (hier hat die FDP ausnahmsweise recht, nur versteht sie es selbst nicht).
Ungerechtigkeiten entwickeln sich nicht nur „von oben“, sondern auch von unten – indem unterschiedliche Gruppen die Dinge anders bewerten, Individuen sich nicht so verhalten, wie man es erhofft. Womöglich haben die Bekümmerten gar kein Interesse am Gekümmert werden. Sie wollen eher auf den Tisch hauen, durch Wut ihre Identität stärken – und die Kümmerer zum Teufel jagen, um irgendeiner regressiven Fantasie nachzujagen.
Was die Politik kann ist: Auf konstruktive Initiativen der Gesellschaft reagieren. Aber sie ist hilflos, wenn es keinen konstruktiven Veränderungswillen gibt. Dann wird der notwendige gesellschaftliche Streit zum sinnlosen Zank.
Vielleicht ist es an der Zeit, Demokratie als das zu sehen, was sie ist: Ein Problemlösungs-Tool für Machtfragen. Nicht mehr, nicht weniger. Politik kann Ziele setzen, Prozesse koordinieren, auch Visionen entwickeln. Aber nicht die Welt gestalten. Für echten Wandel ist die Politik auf die Energie und die Kreativität der Zivilgesellschaft angewiesen. Sie braucht aktive, konstruktive Bürger, die die vielen kleinen Schritte im Lokalen und Konkreten gehen. Demokratie ohne Emanzipationswillen ist hilflos.
Wie bekommt man die Kräfte von Gesellschaft, Politik und Individuum wieder in einen Wirkungszusammenhang? Die Publizistin Samira El Ouassil formuliert es so:
„Eine neue, zukünftige Narration müsste den sweet spot des Stolzes auf sich selbst treffen – Eine Erzählung der Selbstwirksamkeit.“
www.spiegel.de/warteschlange-der-gleichwertigkeit
Die kooperative Demokratie
Gisela Erler, ehemalige Staatsrätin für Bürgerbeteiligung in Baden- Württemberg, hat ein Schlüssel-Buch zum Zukunfts-Wandel der Demokratie geschrieben. „Demokratie in stürmischen Zeiten – für eine Politik des Gehörtwerdens“ handelt von ihrer persönlichen Geschichte als linksalternative Aktivistin hin zur Bürger-Demokratin. Und von einem breit angelegten Versuch, die gesellschaftlichen Kommunikationssysteme neu zu verstehen und konstruktiv zu verändern.
Ausgangspunkt ist der Protest gegen den Stuttgarter Tiefenbahnhof, in dem vor 20 Jahren der „Wutbürger“ geboren wurde. Aus den Erfahrungen dieses Konflikts heraus entwickelte Gisela Erler eine neue Kultur der Teilhabe, die die Abstimmungsprozesse bei konfliktreichen Entscheidungen anders strukturiert. Eine zentrale Rolle dabei spielt der Zufallsbürger.
Wenn man zu einer klassischen Bürgerversammlung einlädt, etwa bei Streits um Windparks, Ortsumfahrungen, Schulprojekte, Verkehrsentscheidungen oder Bauvorhaben, kommen meist nur diejenigen, die sich als Allein-Experten betrachten, und die ihre Wut in einer Konfrontation loswerden wollten. Meistens sind das ältere Männer mit viel Zeit zum Dagegensein und kräftigen Verbitterungsgefühlen. Solche Veranstaltungen, bei denen die lautesten Brüller gewinnen, führen in tiefe Frustration. Wer NICHT zu solchen Treffen, oder dort niemals zu Wort kommt, sind Jugendliche, Frauen und ältere Menschen.
Um das zu verändern, hilft ein ausgeklügeltes Losverfahren. Aus der Einwohnermelde-Datei werden per Losverfahren zunächst etwa tausend Bürger angeschrieben und gefragt, ob sie sich für einen demokratischen Entscheidungsprozess zur Verfügung stellen wollen. Aus den Rückmeldungen wird eine ungefähr repräsentative Auswahl nach Kriterien wie Alter/ Geschlecht/ Experte/Laie/ Betroffenheit zum Thema ausgewählt. Dann werden diese Menschen von erfahrenen Moderatoren durch einen Diskussions- und Entscheidungs-Prozess geführt, der auf LÖSUNGEN hinzielt.
Wer solche lebendigen Abstimmungsprozesse einmal „life“ erlebt hat, versteht plötzlich, dass Demokratie vor allem eine Art und Weise des Sprechens, des Selbst- und Sozialerlebens ist. Es ist erstaunlich, wie „Zufallsbürger“ bei der aktiven demokratischen Arbeit regelrecht aufblühen, sich verwandeln. Rasch zu kompetenten Experten werden, die die Zusammenhänge verstehen und berücksichtigen. Und oft viel konsequentere und fortschrittlichere Forderungen stellen als die eigentlichen Experten selbst.
Aus dem Wutbürger wird ein Mutbürger.
Der Zufallsbürger ist auch ein Zukunftsbürger.
Wenn Menschen zugehört wird, aber dabei auch selbst zuhören, sind sie auch in der Lage, Verantwortung zu übernehmen.“Es geht dabei weniger um ein Umdenken in der Bevölkerung als eine neue Haltung in Verwaltung und Politik“, schreibt Gisela Erler in ihrem Buch. Erstaunlicherweise benötigen solche Prozesse gar nicht so viel Zeit wie befürchtet; sie reduzieren vielmehr die Anzahl der Klagen, Einwürfe und Verhinderungen. Konservative fürchten, durch solche Verfahren würde die repräsentative Demokratie in ihrer Autorität beschädigt. „Bürgerräte“ klingt nach Kommunismus, ist aber es ganz anderes: Offene Entscheidungsfindung in demokratischen Verhältnissen. Konvente und „Bürger-Konklaven“ können die repräsentative Demokratie nicht ersetzten, aber um einen entscheidenden Faktor ergänzen: Das (Selbst-)Erleben von WANDEL, mit dem man persönlich etwas zu tun hat.
Dass besonders Frauen dabei eine konstruktive Rolle spielen, sei hier nur am Rande bemerkt.
Verschiedene Formen der Konvents- und Bürgerbeteiligungs- Bewegung haben sich bereits in einigen Ländern ohne große öffentliche Wahrnehmung durchgesetzt. Auch auf EU-Ebene und im politischen Berlin ist die Beteiligungs-Demokratie bereits angekommen. Die Stadt Paris hat eine ständige Bürgerversammlung eingeführt, die jährlich über 100 Millionen Euro des Stadtetats verteilt. Mexiko-Stadt hat eine Stadtverfassung für seine neun Millionen Einwohner per Crowdsourcing ausgearbeitet. Am beeindruckendsten ist vielleicht der partizipative Weg Taiwans durch die Corona-Krise. Das Projekt baute auf drei Prinzipien auf – „schnell, unterhaltsam und fair“. Die taiwanesische Regierung legte ihre Pandemie-Daten offen und vertraute den Bürgern, dass sie ihre Bewegungsfreiheit auf Grundlage der „partizipativen Selbstüberwachung“ einschränkten. Das Ergebnis: Eine der niedrigsten Todesraten der Welt, ohne dass jemals eine Ausgangssperre verhängt wurde.
In manchen Ländern sind Teilhabe-Formen bereits in komplexe politische Prozesse integriert, vor allem in Skandinavien, aber auch in manchen Ländern Afrikas. In Irland wurde nach der Finanzkrise ein breiter Bürger-Konvent zur Zukunft der irischen Demokratie in Leben gerufen, der auf erstaunliche Weise zu einem grundlegenden liberalen Transformationsprozess des Landes führte. In Dänemark wurde eine große Krankenhausreform über Jahre von „Bürgerexperten“ begleitet und gestaltet – und verlief erstaunlich konfliktlos. Dänemark schaffte es sogar, als erstes europäisches Land eine CO2-Steuer für die Landwirtschaft einzuführen. In Deutschland würde ein solches Unterfangen wahrscheinlich zu schwersten Traktor-Aufläufen und schrecklichen Talkshows führen (in Frankreich zu brennenden Mülltonnen). In Dänemark gestalteten Landwirte, Behörden, Industrie, Agrarspezialisten, Lebensmittelproduzenten, Naturschützer ein sinnvolles Steuerungsinstrument für die Dekarbonisierung, mit dem (fast) alle zufrieden sind.
Wer die Politserie BORGEN gesehen hat weiß, wie die Mechanismen des Populismus die Demokratie von innen heraus zerstören kann. Die dänische Politik hat darauf radikale Antworten gefunden. Zum Beispiel durch eine klare Forderung/Förderung-Politik bei der Migration, die den hilflosen Moralismus überwunden hat, mit dem dieses Thema die Gesellschaft vergiftet. Dänemark, ein Land, in dem Bürger Vertrauen zueinander immer wieder aktiv entwickeln, arbeitet an der „Next Democracy“; einer erweiterten, rückgekoppelten, „fließenden“ Demokratie, in der das Verhältnis zwischen Bürger, Staat und Gesellschaft neu kalibriert wird. Wie erfolgreich das ist zeigt, dass die Rechtspopulisten in Dänemark heftig geschrumpft sind.
Während sich das alte Parteigefüge langsam auflöst, sprießen neue Parteiformen, die den alten Rechts-Links-Konflikt überwinden wollen. Volt zum Beispiel, die gesamteuropäische Bewegung, die Ökologie, Ökonomie, Kreativität und Sozialverantwortung zusammenfügen will. Manche dieser Post-Parteien verschwinden schnell wieder, verzetteln sich in Nebenschauplätzen, wirken eher wie Sekten (wie etwa die Piratenpartei oder die Scherzkekse-Parteien). Aber das politische System experimentiert – endlich. Das aktuellste Beispiel ist Frankreich, dass sich durch Macrons gewagten Schritt, das Parlament aufzulösen, plötzlich in einer Art politischem Modernisierungszwang befindet. Entweder gelingt es den Franzosen, ihre regressive ideologische Polarisierung in eine neue Erzählung zu überführen, mit neuen Allianzen und Synthesen und Lernprozessen. Oder das ganze System wird dekonstruiert.
Nach der alten Regel der Alchemisten, „Solve et cuagola“ – Auflösung und Zusammenfügung – fügen sich die Dinge manchmal erst zusammen, wenn sie auseinanderfallen. Die Alchemisten fanden zwar nicht das Gold, aber das Porzellan. Die Demokratie mag zerbrechlich wirken, aber in Wirklichkeit ist das Zerbrechliche, das Fragile, immer auch der Anfang des Neuen. Das gilt sogar für Amerika.
Der glühende Liberale und ehemalige Chefredakteur der ZEIT und Intendant des Schweizer Rundfunks formulierte in seinem Buch „Die Kraft der Demokratie“: „Wir stehen vor der Aufgabe, aus der Demokratiekrise eine erfolgreiche Krise zu machen.”.
Und Stewart Brand, der humanistische amerikanische Zukunftsforscher, fasste seine Erkenntnis über den Wandel der Systeme, also auch der Demokratie-Systeme, so zusammen:
In einem System Kleinigkeiten zu ändern
Ist nicht nur die effizienteste Art
Es in eine bestimmte Richtung zu bewegen
Sondern auch die sicherste.
Denn wenn du versuchst
Es komplett zu drehen
Dreht es gerne mal durch
Aber wenn Du nur
Eine kleine Schraube bewegst (die Richtige)
Wird es sich verwandeln.
Literatur
- Roger de Weck, Die Kraft der Demokratie – Eine Antwort auf die autoritären Revolutionäre: www.suhrkamp.de
- Gisela Erler, „Demokratie in stürmischen Zeiten – für eine Politik des Gehörtwerdens“: www.herder.de
- Die neue Bürgergesellschaft: www.bbc.com
- CO<sub<2< sub="">-Steuer in Dänemark: esgnews.com</sub<2<>
- Eine schöne Reportage über den „transparteilichen“ Bürgermeister von Altenburg: www.zeit.de
Anhang: Wo Demokratie gewinnt oder sich behauptet
Gegen die Angst vor der Diktatur hilft auch ein Perspektivenwechsel. Wo widersteht die Demokratie, oder sogar den Kampf gegen die Autokratien?
England, Brasilien und Polen haben bereits eine populistisch-autokratische Schleife hinter sich. In Brasilien konnte ein Möchtegern-Diktator die Gesellschaft nicht wirklich verändern – die brasilianische Kultur ist einfach zu vital um sich dauerhaft „despotisieren“ zu lassen. In Polen gelang ein „Aufstand des Urbanen“ gegen die Verfinsterung des Provinziellen, der sich auf eine kluge Weise nicht auf frontale Gegnerschaften einließ. In England ist der bizarre Brexit-Schwurbel bereits nach acht Jahren vorbei. Englands Demokratie ist resilient, nicht weil sie „eisern“ wäre oder „stabil“. Sondern weil die englische Gesellschaft lernfähig ist, frustrierfähig, ironiefähig….
Vielleicht gibt es so etwas wie einen populistischen Zyklus, den Demokratien durchlaufen müssen, um sich neu zu erfinden. Demokratische Krisen eröffnen dabei immer wieder den Zugang zu Neuen Formen und neuen Narrativen des Politischen und Gesellschaftlichen.
- In Island war zur Finanzkrise ein ganzes Land bankrott, Politiker wanderten in den Knast (nun ja: isländische Knäste sind ziemlich komfortabel). Danach wurde die Demokratie auf eine neue Weise lebendig, Frauen übernahmen mehr Posten und Verantwortung, und das Land ging in eine Orientierungsphase Richtung Zukunft.
- In Indien stieß eine nationalistische Religions-Autokratie bei der letzten Wahl an ihre Grenzen, weil im Modernisierungsprozess der Kultur das Konservativ-Religiöse an Bedeutung verlor.
- Im Iran wurde trotz der eisernen Herrschaft der Mullahs ein Wahlprotest zur Protestwahl; Peseschkian, ein Semi-Reformer, schaffte tatsächlich eine Mehrheit. Immerhin ist hier ist die Zivilgesellschaft alive and kicking.
- In der Türkei entwickelt sich in den großen Städten eine starke Gegen-Bewegung gegen den Erdoganismus. Der liberale Bürgermeister von Istanbul feierte einen triumphalen Wahlsieg.
- Selbst in Ungarn kommt es derzeit zur Formierung einer (konservativen) Opposition, die die Demokratie bewahren will. Das Aktionsbündnis um Peter Magyar könnte sich in den nächsten Jahren durchaus ein eine verändernde Macht verwandeln.
- Die Schweiz hat seit Jahrzehnten einen rechtspopulistischen Block von rund 25 Prozent. Gleichzeitig ist die Schweiz ist ein gutes Beispiel für eine adaptive Demokratie. Erprobte Formen der direkten Demokratie sowie das Konkordats Prinzip führen zu einer Einhegung rechter und linker Radikalität. In der Schweiz MÜSSEN alle gewählten Parteien an der Regierung beteiligt sein. Es herrscht sozusagen eine Diktatur der Mitte, die allerdings mit vielen basisdemokratischen Mitteln ausgestattet ist, die die Gesellschaft immer in Bewegung halten.
- Selbst die triumphale Giorgia Meloni musste erleben, dass ein populistischer Sieg sehr schnell wieder auf einer lokalen gesellschaftlichen Ebene eingeholt werden kann. Bei den Kommunalwahlen im Juni 24 in Italien holten die meisten Städte und Regionen linke oder liberale oder grüne Mehrheiten zurück. Eine besondere Rolle spielten dabei ausgerechnet die Frauen – offenbar haben sie den Fehdehandschuh angenommen, den ihnen eine rechtsradikale Frau entgegenwarf.
Diese und viele Beispiele mehr erzählen, dass sich die Demokratie nicht am Ende, sondern in einem Such- und Transformationsprozess befindet. Einem Phasensprung, der langsam Gestalt annimmt. Demokratie ist lebendiger als wir glauben können, wenn wir ständig wie nur hypnotisiert in die hässliche Fratze des Populismus starren.
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