Wie entwickeln sich eigentlich Organisationen?

von Anke Lüneburg

Momentan beobachte ich bei vielen Unternehmen und Verwaltungen Auseinandersetzungen, manchmal sogar Konflikte, die auf Veränderungen und ihrer Akzeptanz basieren. Manchmal liegt es an der Unternehmenskultur, manchmal an der Führung, auch die Pandemie hat ihre Schäden vor allem in der Kommunikation hinterlassen.

Aber manchmal ist es auch die Organisation selbst.

Organisationen, also Unternehmen, Verwaltungen oder Vereine und Verbände, gehen ebenso wie Menschen durch verschiedene Phasen der Entwicklung. So wie der Mensch Kindheit, Jugend, Erwachsen-Sein und Reifung durchläuft, so gehen Organisationen durch vier Phasen:

  • Pionierphase
  • Differenzierungsphase
  • Integrationsphase
  • Assiziationsphase
    (Glasl: Glasl/Lievegoed “Dynamische Unternehmensentwicklung”, 2004)

Für Führungskräfte ist es wichtig, diese Phasen zu kennen, damit sie zum einen erkennen, in welcher Phase sich eine Organisation befindet, in der sie ein Führungsaufgaben übernehmen. Zum anderen werden sie gegebenenfalls in einer neu gegründeten Organisation tätig sein oder selbst eine gründen – hier ist der Übergang von der Pionierphase in die nächsten Phasen ein wichtiger Entwicklungsschritt.

Allgemein hat der Übergang in eine andere Phase, der durchaus für verschiedene Organisationbereiche zu unterschiedlichen Zeiten erfolgen kann, Konsequenzen für Tätigkeiten, Bereiche und Mitarbeitende, wie nachfolgend gezeigt wird:

Pionierphase

In der Pionierphase verhält sich die Organisation wie eine große Familie. Der oder die Gründer sind Pionierpersönlichkeiten mit einer Vision für das neue Unternehmen. Die gesamte Organisation ist um sie aufgebaut, die Mitarbeitenden identifizieren sich sehr stark mit ihnen und handeln in ihrem Sinne.

Die Führung ist charismatisch-autokratisch, wird jedoch von den Mitarbeitenden akzeptiert. Es herrscht ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl, jeder und jede in der Organisation weiß, wie wichtig er oder sie ist und insbesondere welche Rolle den Gründern zukommt. Die Mitarbeitenden sind sehr motiviert und bereit, sich schnell in neue Themen einzuarbeiten.

Anfangs gibt es kaum Pläne, sondern es wird „getan, was zu tun ist“: Die Sicht der Kunden ist das Maß der Dinge, Wünsche werden erfüllt – aber vielleicht die Rechnungsstellung hinausgeschoben. Durch die Improvisationsfähigkeiten ist die

Gefahr besteht, wenn es die Organisation nicht schafft, rechtzeitig in die nächste Phase einzutreten. Dann kann sie in eine Entwicklungskrise geraten: Die Folgen können Verfall des Charismas und des „Personenkults“ hin zum „Chef-Chaos“, Nachfolge- und Machtkämpfe, „Diktatur“ durch die Gründer, mangelnde Transparenz und unselbständige und abhängige Mitarbeitende sein.

Differenzierungsphase

Nun ist es Zeit für Klarheit und Verbindlichkeit, die Organisation wird durchstrukturiert: Klare Stellenbeschreibungen, Aufbau von Gruppen und Abteilungen, standardisierte Abläufe, Formalisierung, Koordination, Spezialisierung etc. Dazu gehört beispielsweise die Ergänzung der Teams um Experten, die noch nicht vorhanden waren, Steuerung und klare Absprachen, um Transparenz zu schaffen.

Die Führung erfolgt auf einer sachlichen, technischen Ebene, häufig durch neu hinzugekommene Führungskräfte, um Abläufe neutral zu steuern und um willkürliche Entscheidungen und Improvisation zu beseitigen.

Das Handeln aus Kundensicht wird ersetzt durch die Sicht von innen: „Wir entscheiden, was wir verkaufen – und zwar das, was gut für uns ist!“.

Die Gefahr in dieser Phase kann durch einen zu hohen Organisationsgrad entstehen, so dass die Mitarbeitenden die Organisation als sehr bürokratisch und starr empfinden. Gerade Mitarbeitende, die seit der Pionierphase im Unternehmen sind, vermissen den „Spirit“ der Gründungszeit und finden es befremdlich, plötzlich Dienstreiseanträge oder Stundenzettel schreiben zu müssen. Auch der Umgang mit Budgets wird als Belastung empfunden. An dieser Stelle kommt es häufig zu Kündigungen der Pioniermitarbeitenden, da sie die persönlichen Beziehungen oder die starke Kundenorientierung vermissen. Eine andere Entwicklung können Gruppenbildungen sein: Die „Alten“ gegen die „Neuen“ mit starken Abgrenzungstendenzen, die das Betriebsklima und das Image der Organisation negativ beeinflussen können.

Integrationsphase

Nachdem nun die Organisation ihr „Gerüst gebaut“ hat, besinnt sie sich wieder auf ihre Vision, den Sinn und Zweck der Organisation. Die Führungskräfte entwickeln ihre Mission, vereinbaren Ziele und richten die Organisation auf Kundenbedürfnisse aus. Sie sind Dienstleister, besser noch Berater für die Mitarbeitenden. Sie achten auf die Entwicklung der Mitarbeitenden durch Schulungen und Seminare, um die Weiterentwicklung der Organisation sicherzustellen.

Diese Phase schafft einen Ausgleich zu den ersten beiden Phasen: Die Kundenorientierung ist wieder ebenso wichtig wie in der Pionierphase; die in der Differenzierungsphase geschaffenen Strukturen und Abläufe unterstützen zusammen mit den Führungskräften die wirtschaftliche Entwicklung der Organisation.

Eine Krise kann in der Integrationsphase entstehen, wenn die Führungskräfte zu sehr im Strategie-Modus verbleiben und die Organisation zu sehr um sich selbst kreist. Ein solches Verhalten führt zu Widerständen seitens der Kunden und Lieferanten.

Assoziationsphase

Nachdem sich die Organisation nun innerhalb ihrer Grenzen gefunden hat, öffnet sie ihre Außengrenzen und bezieht die Umwelt in ihr Handeln ein. Dazu gehören Lieferanten, Vertriebspartner, Kunden und andere Stakeholder wie Gesellschafter oder Politiker. Die Organisation tauscht sich mit den Stakeholdern aus, entwickelt gemeinsam Produkte oder sucht Lösungen. In dieser Phase erhalten Mitarbeitende eine höhere Eigenverantwortung für die stetigen Verbesserungen von Produkten und Dienstleistungen sowie für Weiterbildungen – es entsteht die „lernende Organisation“. Wichtig ist an dieser Stelle, die Unternehmenskulturen der eigenen Organisation mit den Stakeholdern abzugleichen und anzupassen.

Eine Gefahr kann durch die Bildung von Machtblöcken entstehen: Organisationen können zusammen mit Stakeholdern Monopole entwickeln, die machtvoller sind als demokratische Organe.

Sinn der Phasen

Wenn eine Organisation in einer Phase in der Krise ist, so kann es Sinn machen, zurück in die vorherige Phase zu gehen.

Festzuhalten ist jedoch, dass jede Organisation eine Pionierphase braucht, auch wenn Konzerne neue Niederlassungen planen: eine charismatische „Mutter“ oder ein „Vater“ als Leitung sowie Mitarbeitende, die sich als „Familie“ verstehen und in Freiräumen verantwortlich arbeiten, sind für den Erfolg und die Weiterentwicklung der neuen Organisation unabdingbar.

Auch die Differenzierungsphase ist notwendig und kann nicht übersprungen werden. Um in die Integrationsphase einzutreten, müssen Strukturen und Prozesse die „Familie“ ersetzen. Erst durch klare Strukturen ist die (erneute) Entfaltung in Freiräumen für Mitarbeitende und Führungskräfte möglich. Sonst bleibt die Energie der Pionierphase erhalten: Unklarheit, keine Spezialisierung, keine Budgets und Abgrenzung zwischen der „Familie“ und neu Hinzugekommenen. Hier liegt auch der Grund für die hohe Bedeutung des Lernens in der Organisation.

Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Bitte rechnen Sie 5 plus 6.